Da ich nach einer Blinddarm-OP derzeit zur Schonung verpflichtet bin, habe ich endlich die Zeit, mich mit Lektüre zu beschäftigen, die mich am Ende eines normalen Arbeitstages überfordern würde. Und so habe ich mit großem Vergnügen und Freude in den letzten beiden Tagen folgendes Büchlein gelesen:
https://www.perlentaucher.de/buch/horst-bredekamp/leibniz-und-die-revolution-der-gartenkunst.htmlBredekamp zerlegt hier das auch von mir gehegte Vorurteil, der Barockgarten verkörpere den Willen zur Beherrschung und der Landschaftsgarten sei Produkt einer freiheitlichen, an der Natur orientierten Geisteshaltung. Am Beispiel der Freundschaft zwischen der Herzogin Sophie und Leibniz und beider Liebe zum Herrenhauser Barockgarten wird in dem Buch gezeigt, wie sich die Philosophie und Weltanschauung von Leibniz im Barockgarten ausdrückt und wie sehr er von diesem Garten inspiriert wurde.
Beispielsweise habe die Erkenntnis, dass kein Blatt einem anderen gleiche zu der Überzeugung geführt, dass es überhaupt in der Welt keine zwei Dinge gebe, die miteinander völlig identisch seien. Deshalb lehne Leibniz die Vorstellung ab, die Welt könnte mit Hilfe von einander identischen Atomen aufgebaut vorgestellt werden. Vielmehr sehe er, dass jedes auch noch so kleinste Teilchen eine Welt für sich darstelle, die wiederum in kleinste Teilchen unterteilbar sei. Die Welt bestehe damit aus einer Unendlichkeit, die sich intrinsisch entfalte. Dies werde dann im Barockgarten durch die Darstellung unendlicher Form- und Variationsmöglichkeiten vermittelt. Letztlich gehe es dem Barockgarten weder um Symmetrie noch um Geometrie an sich, "seine geometrische Anlage vollzieht nicht etwa eine Bändigung von Einzelformen, sondern einen Ausschnitt theoretisch unendlicher Möglichkeiten. Er verkörpert nicht Zwang, sondern die Freiheit, und seine technischen Finessen suchen die Natur nicht zu überwältigen, sondern die in ihr wirkenden Kräfte als Ineinander von Geometrie und Vielfalt zu aktivieren."
Kritisch weist der Autor jedoch darauf hin, dass manche Barockgärten in "Verkennung des Barock als einer alles Individuelle tilgenden Geste restloser autoritärer Bedingtheit" in Zuge von "Restaurierungsarbeiten" zu regelrechten Parodien des Barock umgestaltet worden seien.
Der Autor verfügt über eine beneidenswerte Fähigkeit, Bilddokumente und Texte zu rekonstruieren und dabei den Leser mitzuführen, so dass seine Folgerungen nachvollziehbar sind. Hierbei geht es um Themen wie die Freundschaft zwischen der Herzogin Sophie und Leibniz, seinem Beitrag zur Schaffung der Großen Fontäne, und seiner Philosophie. Am Ende des Buches setzt sich der Autor noch mit den Vorurteilen gegenüber dem Barockgarten und dem Landschaftsgarten auseinander. Ein Beispiel für die überraschenden Erkenntnisse, die der Autor dabei vermittelt, ist, dass Versailles schon zu Beginn des 18.Jahrhunderts jedem Besucher Tag und Nacht offenstand, während sich die angeblich so libertären englischen Lords zum Teil mit Fußfallen und Selbstschussanlagen gegenüber Besuchern abgrenzten. Sehr humorvoll hingegen die Betitelung des englischen Landschaftsgartens durch Goethe als "naturspäßig", in dem man nicht wie im Barockgarten gesellig wandeln könne, sondern man vielmehr "allerwärts aneinander stößt, sich hemmt oder verliert." Ein weiteres Beispiel für das Auf-den-Kopf-stellen lange gehegter Überzeugungen sind die nachvollziehbaren Ausführungen des Autors, nach denen die gerade Linie viel eher in der Lage sei, Natur auszudrücken als die geschwungene Linie. Die gerade Linie sei Natur, die geschwungene Kunst!
Insgesamt ein für mich sehr bereicherndes Buch, dass mir mal wieder gezeigt hat, dass selbst fest geglaubte Axiome heutiger Weltanschauung dekonstuiert werden können und dann unerwartete Einsichten und Perspektiven ermöglichen. Der Autor selbst hat einen gut lesbaren Stil, zum Teil sind die beschriebenen Sachverhalte jedoch kompliziert, so dass ich empfehlen würde, das Buch nur dann zu lesen, wenn sich ein philosophisches Grundinteresse paart mit einer von Alltagsbelastungen befreiten Zeit.