Cavalettistunde zum zweiten:
Die Zuschauer rutschten schon unruhig hin und her. Mir rutschte das Herz in die Hose. Bis auf etwa Knöcheltiefe.
Hans knallte Waldfee über dem Sprung voll in den Rücken, löste sich mit großer Zeitverzögerung etwas vom Sattel und landete offensichtlich sehr schmerzhaft auf der Sattelkammer. Er fluchte. „Sei ein Mann, Hans!“ ermunterte ihn Heike. „Noch so’n Sprung, und ich bin keiner mehr“, quetschte Klaus zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Jetzt Tara mit Duplo. Ich erinnerte mich an den alten Spruch: Wirf dein Herz über das Hindernis... Ich warf mein Herz. Duplo warf das Cavaletti um. Das war ein feiner Erfolg für meine Zuschauer: „Schau dir doch die Alte an!“ „Was macht die überhaupt schon hier! Die lernt das nie!“
Ich war geneigt, ihnen zuzustimmen. Mir tropfte der Schweiß aus dem Helm. IchWILLreitenlernen. Ich lerne reiten.
Neuer Anlauf. Wirf dein Herz... Ich warf, mit allem, was ich hatte. Dubi warf sich hinterher. Er tat einen mächtigen Satz! In der Millisekunde, bevor ich hilflos die Augen schloß, erhaschte ich den Anblick der Hallenbewässerung knapp über mir. Sie war staubig.
„Tara, das ist ein Cavaletti! Doppeloxer kommen später“, erklärte Birte trocken. „Doppeloxer!!!!“ kreischte es von der Tribüne, „bau ’nen Doppeloxer auf!!“
Ich konnte mich nicht um sie kümmern, denn ich hing irgendwo auf der linken Seite des Sattels und hatte Mühe, wieder in die Mitte zu kommen.
Birte drehte zu voller Lautstärke auf: „Ist jetzt endlich Ruhe auf den billigen Plätzen!!!“ Sie war ernsthaft böse.
„Tara, du bist zu steif. Du muß mehr in der Hüfte mitgehen“, erklärte sie mir hinterher.
„Bin ich doch! Bin ich nicht?“
„Na jaa, ne.“
Ich war ratlos. Noch mehr in der Hüfte mitgehen? Heike, die keineswegs eine bessere Figur gemacht hatte als ich – und steif war sie wie ein Stück VA-Stahl -, schlug mir vor, einen Hula-Reifen zu kaufen. Oh Mann. Neinnein. Beine auf die Waschmaschine, Klappmesser, Treppen auf Zehenspitzen, Grätschen. Und jetzt noch ein Hula-Reifen? Das fehlte gerade noch. Also irgendwo hört’s auf.
Morgens um acht stand ich im größten Spielzeuggeschäft am Platze. Diensteifrig eilte eine Verkäuferin auf mich zu. Keinen Tag älter als achtzehn, mit diesen ellenlangen Beinen. Und SCHLANK! Ich kam mir neben ihr vor wie eine Kuh. Vom Fleischtyp. Ich will reiten lernen, sagte ich mir vor, Ich. Will. Reiten. Lernen. Ich muß beweglicher in der Hüfte werden.
„Ich hätte gern einen Hula-Reifen.“
„Einen was?“
„Einen Hula-Reifen.“
„Hula-Hoop-Reifen?“
Hula-Hoop-Reifen. Jeanshosen. Haarfrisur. „Ja, einen Hula-Hoop-Reifen. Hätte ich gern.“
Sie maß mich erstaunt: „Oh, die sind aber wirklich seit Jahren aus der Mode. Seit Jahren. Ich müßte vielleicht mal im Lager nachsehen...“
Aus der Mode. Na laß mal, Mädel. Du wirst auch mal vierunddreißig.
Das Mädel kam zurück: „Drei haben wir noch da. Gelb, pink und blau. Welche Lieblingsfarbe hat denn ihr Kind?“
Ich lachte entschuldigend: „Das Kind bin ich. Ich nehme den blauen.“
Die Verkäuferin musterte mich von oben bis unten und zurück. Ein Licht ging ihr auf. Sie lächelte mich verstehend an: „Gut für die Figur, nicht?“
Die Fetzen meiner Würde um mich raffend, schlich ich mit meinem Reifen davon. Von diesen Demütigungen war bei Horst Stern nicht die Rede...
Aber abends konnte ich es plötzlich kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Mit dem Hula-Reifen war ich als Kind gar nicht so schlecht gewesen.
Auf der Treppe sah mich meine Hauswirtin: „Na, was machen sie denn jetzt? Ein Hula-Hoop-Reifen! Ist gut für die Figur, nicht?“
„Stimmt!“
Ich zog die Vorhänge vor - mein Nachbar auf der anderen Straßenseite hätte die Bauchtanz-Vorstellung bestimmt sehr genossen - und stieg in den Hula-Reifen. Mit den Händen Schwung gegeben – und... Hula!
Nix Hula, Platsch.
Noch mal. Der Reifen platschte wieder zu Boden, wackelte dort noch zweimal höhnisch auf und ab. Ich schaute zornig zurück. Ich. Will. Reiten lernen!
Hula zum dritten. Diesmal gehorchte das Ding. Ich schaffte es dreimal rum! Verdammt, als Kind hatte ich den Reifen bis zum Kinn bringen können und dann bis in die Kniekehlen und wieder rauf. Probieren wir’s mal linksrum. Linksrum ging es gar nicht.
Es hatte zu gehen! Ich wollte ins Gelände. Dafür brauchte ich den Reiterpaß. Dafür mußte ich springen können. Und wenn ich dafür mit dem Hula-Reifen üben muß, dann tu ich das! Ich übte, bis ich blau im Gesicht war. Allmählich ging es besser. Es mußte sogar beträchtlich besser gehen, denn Hans bewunderte am nächsten Tag ironisch meinen ganz neuen Hüftschwung.
Auch die Cavalettistunden klappten allmählich etwas besser, ja, ich bildete mir ein, Heike und Hans jetzt tatsächlich schon ein bißchen voraus zu sein.
Aber so richtig war mein In-der-Hüfte-mitgehen immer noch nicht. Ich verstand einfach nicht, was die Reitlehrer meinten! Birte und ihr Kollege Kaiser (es gab drei Reitlehrer plus diverse Lehrlinge, von denen noch der jüngste besser reiten konnte, als wir es jemals können würden) waren sich ausnahmsweise einmal einig – ich war zu steif, ich ging nicht genug in der Hüfte mit.
Auf meine Bitte hin mischte sich Gertrud unters Publikum, die Inhaberin des Reitladens, die ich beim mehrmaligen Abmessen meiner Reitstiefel (wie gesagt, die Waden waren nicht Konfektionsgröße) gut kennengelernt hatte. „Du bist einfach zu steif“, murmelte sie hinterher. „Du schwingst nicht richtig in der Hüfte mit! Dein Rücken sieht aus wie ein Brett!“ Sehr hilfreich. WAS machte ich aber falsch? Ich tat mein möglichstes. Ich war ganz überzeugt, es richtig zu machen! Wenn ich doch beim Springen nur gleichzeitig in den Spiegel sehen könnte!
Ich war wirklich verzweifelt.