Cavaletti zum dritten:
Heike schlug vor, mich mit der Video-Kamera zu filmen, damit ich endlich selbst sehen konnte, was ich falsch machte. Eine Filmaufnahme! Das war mir zwar ein bißchen peinlich, aber ich nahm das Angebot trotzdem dankbar an.
Birte würde mir ausnahmsweise Waldfee geben, unser Halt-dich-fest-ich-mach-das-schon-Pferd. Heike, die sie sonst immer hatte, würde ja diesmal nicht mitreiten. Mit Waldi konnte ich mich ganz auf meinen Fehler konzentrieren. Ich konnte es kaum abwarten.
Eine Stunde vorher bereitete Birte mich schonend darauf vor, daß ich das Waldviech nicht kriegen würde. „Wirklich, ich kann nicht anders. Die Marie Kunert hat sich angemeldet.“
„Und? Soll die doch den Duplo nehmen oder irgendwen!“
„Tara, mach keinen Ärger. Die Kunert reitet nur die Waldi. Die reitet sonst nicht mit.“
„Dann soll sie es halt lassen! Ich nehme auch alle Pferde! Birte, ich reite jede Woche vier oder fünf Stunden!“
Birte war verlegen, aber unerbittlich: „Und die Kunerts reiten jede Woche zusammen sechs oder acht Stunden. Und die machen uns dann Ärger. Ich geb’ dir die Waldi ein anderes Mal.“
Keine Waldfee! Das war ein Tiefschlag. Aber es kam noch schlimmer: Alle Pferde waren schon zugeteilt gewesen, und damit nicht alles wieder umgeworfen werden mußte, sollte ich Zeppelin bekommen.
Zeppelin! Der braune Holländer war erst seit drei Wochen im Schulstall, und nur die wenigsten kamen mit ihm klar, nach allem, was ich so hörte. Nur Gernot Kunert und vier, fünf andere hatten keine Probleme mit ihm.
Birte versuchte mich zu beruhigen: „Der Zeppelin ist früher M-Springen gegangen. Der macht die Cavaletti mit links!“
Der Zeppelin vielleicht. Aber ich? Na ja. Ich biß die Zähne zusammen. Aber die blöde Kunert mit ihren Haarspängchen, die immer so freundlich lächelte, die könnte ich in den Hintern treten von hier bis Bagdad. Immer nett eisern seinen Willen durchsetzen, das hab’ ich gern!
Zeppelin. Oh mein Gott. Zeppelin. Ich stand neben dem gesattelten Pferd. Zeppelin war einfach riesig. Ich kam mit der Hand kaum bis zur Sattelkammer. Na ja, scheint ja aber doch ein Lieber zu sein.
Na los, Zeppi, auf geht’s. Du mußt mit mir springen. Geb’ dir Mühe, wir werden gefilmt!
Die Zuschauertribüne war voll besetzt. Ausgerechnet heute. Heike und ihre Videokamera standen im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Daß sie ausgerechnet mich filmen wollte, löste den ersten Heiterkeitsausbruch aus.
Ich saß auf. Das heißt, ich versuchte es. Von diesem Zeitpunkt an versagte mein Erinnerungsvermögen. Gänzlich. Heike hatte mich hinterher, nachdem ich im Reiterstübchen meine Runde bezahlt hatte – es war eine arg große Runde! -, für den nächsten Tag zu Kaffee und Film eingeladen. Dabei kicherte sie wie blöd.
Heike hatte einen geradezu professionellen Film gedreht. Mit Ton. Die Kaffeetasse in meiner Hand zitterte leicht.
Undeutliches Flirren. Tuscheln von der Tribüne. Das Bild wird klar. Ein Schwenk über grinsende Gesichter.
Die Kamera schwenkt weiter zur Bandentür. Ein heiseres Krächzen von mir: „Bahn frei!“ Birte fröhlich: „Bahn ist frei!“
Und hier kommt – Tara Chaplin!
Ich stehe mit dem elefantengroßen Zeppelin mitten in der Halle. Ich angle nach dem Bügel. Ich angle und angle. Ich habe ihn! Zeppelin macht einige Schritte zur Seite, ich hüpfe auf einem Fuß hinterher, graziös wie eine trächtige Kuh. Ich rutsche wieder aus dem Bügel.
Neuer Schwenk zu den Zuschauern. Großaufnahme: das Gesicht von Gernot Kunert. Gernot, der geschickte Zeppelin-Reiter. Kunert lacht sich halbtot. Blick zurück zur Bahnmitte: Tara Chaplin hat den Bügel wieder. Tara Chaplin krallt sich in die Mähne. Stößt sich ab mit gewaltigem Schwung. Zappelt hilflos an Zeppis Seite, kriegt das Bein nicht über den Elefantenrücken, zappelt und zappelt. Sepp eilt herbei. Packt Tara am Hintern, schiebt mit Macht. Mein Blutdruck stieg: Marie Kunert latscht durchs Bild. Sieht nett aus mit der Waldi, die blöde Kuh. Tara Chaplin sitzt! Kreischen von den Rängen, „Köstlich“-Rufe, „Absitzen! Noch mal machen!“
Großaufnahme Tara Chaplin: Tara ist sehr rot im Gesicht, Schweiß perlt auf ihrer Stirn. Tara Chaplin sortiert sich, sortiert die Zügel, reitet an. Ganz gut das Anreiten. Im Bild die Mitreiter: alle okay, nur Hans klopft wieder zuviel mit dem Schenkel. Und der Lülf rutscht immer von einer Pobacke auf die andere.
In Großaufnahme: Tara Chaplin von hinten. Mir schwappte der Kaffee über. Das verzeihe ich Heike nie! Großaufnahme von Taras Po. Der schien mir fast so groß wie Zeppelins.
Birte in der Bahnmitte: „Abteilung: Arbeitstrab! Leichttraben!“ Tara Chaplin läßt sich werfen. Zeppi wirft, was das Zeug hält. Tara hat Mühe, wieder mit dem Hintern in den Sattel zu kommen; Zeppelin geht mit mächtigem Schwung. Oh weh: Tara Chaplin verliert einen Bügel, stochert mit der Fußspitze blind und hastig in der Gegend rum, kriegt ihn wieder. Oh weh.
„Abteilung – an---galoppieren!“ Die Abteilung galoppiert an, Tara Chaplin macht es ganz gut. Gar nicht schlecht sah das aus. Ich trank einen Schluck Kaffee.
Birte baut drei Cavalettis auf. Die Abteilung hält an der langen Seite an. „Duplo – antraben! Auf den Zirkel geritten! Angaloppieren!“ Zeppi will auch angaloppieren. Eine Volte, Zeppi steht wieder. Kreischen von den Zuschauern.
„Gut, Hans! Zeppelin!“
Tara Chaplin trabt an. Geht aber NICHT auf den Zirkel, sondern bleibt ganze Bahn, schneidet die Ecken und schlingert an den Cavalettis vorbei. „Was soll das denn!“ schreit Tara Chaplin frustriert. Ihr Gesicht ist jetzt sehr rot, Schweiß rinnt ihr unterm Helm hervor. „Was soll das denn!“ johlen die Zuschauer begeistert.
Tara Chaplin schafft es auf den Zirkel. „Auf, Zeppi!“ Das kommt von Kunert, dem großen Zeppi-Reiter. Dieser Armleuchter. Der Elefant galoppiert an. Meine Hand umklammerte die Kaffeetasse. Heike kicherte und gickelte. Jetzt – jetzt kommt...
Zeppi nimmt den ersten Sprung mit Riesensatz, Tara Chaplin sieht sehr ängstlich aus; Zeppi braucht nur zwei statt drei Galoppsprünge zum nächsten Cavaletti, Tara Chaplin sieht verzweifelt aus; Zeppi erhebt sich in die Lüfte, Tara auch, Zeppi nimmt Cavaletti drei, Tara Chaplin macht den Hubschrauber und kommt vor den Sattel zu sitzen. Sie hat die Füße noch im Bügel und kann weder auf den Boden rutschen noch zurück in den Sattel.
Zeppi galoppiert brav weiter. Birte versucht ihn aufzuhalten. Zeppelin rauscht durch die Halle wie die Gorch Fock unter vollen Segeln. Tara Chaplin sitzt auf seinem Hals wie eine Galionsfigur; Großaufnahme von Tara Chaplins Gesicht: Tara Chaplin wimmert leise. Der Halswickel scheint Zeppi nicht weiter zu stören.
Die Halle kreischt, die Halle tobt, die Halle trampelt mit den Füßen, Zeppi galoppiert brav weiter mit Tara Chaplin, entwischt Birte, an den Cavalettis vorbei noch eine Runde, die Halle ist ein schäumender, lachender Aufruhr, noch eine Runde – oh Gott oh Gott, das bin ich, kein Wunder, daß die kreischen! Oh nein!!! Zeppelin hat das erste Cavaletti wieder im Blick, Zeppi zieht an - meine Füße zeigen plötzlich zur Hallendecke... endlich hat ihn Birte. Birte schüttet sich fast aus vor Lachen. Zeppelin schüttelt sich auch. Dann schüttet er mich Birte zu Füßen. Schnitt.
Ich hatte den ganzen Kaffee verschüttet. Ich versuchte ein Grinsen; mir war zum Heulen. Aber es hatte sich gelohnt: Jetzt wußte ich endlich, was ich über dem Sprung falsch machte: Ich ging ganz einfach nicht genug in der Hüfte mit!