Auf dem Hof war der alte van Krachten nicht häufig. Die meisten wußten nicht einmal, wie er aussah. van Krachten hatte sein Industrieunternehmen zu leiten; das Reitinstitut war Hobby für ihn, ebenso wie seine Vollblutzucht und die Rennen. Für Furcht und Schrecken, die van Krachten zum Gelingen eines jeglichen Unternehmens für unabdingbar hielt, sorgte normalerweise zuverlässig sein Adlatus Schweinsberger.
Aber ein-, zweimal im Jahr kam der Halbgott persönlich, und zwar überallhin: zum Inspizieren des Hofes, der Hallen, sämtlicher Stallungen. Für die Bereiter und Pfleger waren das schreckliche Tage. Man wußte nie, ob man es heil überstehen würde.
Auch wir Kunden konnten es spüren, wenigstens die, die wie ich sozusagen hier wohnten. Es lag eine gewisse Gereiztheit in der Luft, alle bewegten sich einen Tick schneller als gewohnt.
Es wurde gekehrt und gewienert und geputzt und weggeworfen und weggefahren und gemäht und gefegt und probiert, ob uralte Maschinen, die man seit Jahren nicht benutzt hatte, noch liefen. Einen jeden Pfleger zog man am Ohr. Aufgaben wurden untereinander aufgeteilt.
Pfleger Jochen wurde dreimal erklärt, daß er den Vorraum zur neuen Reithalle – da hingen hunderte von Siegesschleifen vom ersten, in der ganzen Republik bekannten Ausbilder des Institutes - blitzeblank zu bekommen habe. Einen Tag später wurde ihm erklärt, daß dazu auch die Spinnweben an der Decke gehörten. Zwei Tage später wurde ihm erklärt, daß die Spinnweben an der Decke definitiv wirklich auch dazugehörten. Drei Tage später wurde er dazu verdonnert, nun endlich die verdammten Spinnweben wegzumachen!! Und zwar sofort!!!
Dann endlich war die schwere Schicksalsstunde da. Ich sollte das Zeremoniell noch mehrmals beäugen dürfen. Es lief immer nach dem gleichen Muster ab: Der Start wurde bei den Reithallen gemacht.
Vor der neuen Halle fuhr der vom Adlatus gesteuerte Mercedes vor. Schweinsberger schoß aus der Fahrertür und wie ein Komet um den Wagen herum, um die Beifahrertür zu öffnen. Schwerfällig stieg der alte van Krachten aus.
Sämtliches anwesende Personal hatte sich links und rechts der Hallentür zu einem Spalier formiert. Etwaige herumlaufende Kinder wurden immer rechtzeitig eingefangen, um diese Ehrengasse zu verlängern und imposanter zu machen. Den Kindern machte das natürlich Spaß, und van Krachten gefiel der Auftrieb um so mehr, je größer er war. Die männlichen Bediensteten (wir sprechen vom Jahre 1992) machten einen Diener.
van Krachten – vierschrötig, rotes Gesicht wie mit der Axt behauen, schwer auf seinen Stock gestützt – schritt, nur mit dem leichtesten Nicken, das einen Gruß andeuten sollte, den man sich aber auch nur eingebildet haben konnte, durchs Ehrenspalier. Hinter ihm schlossen sich die Reihen; die Bereiter an der Tete, folgte ihm die Entourage, Kinder zum Schluß, durch die kürzer werdende Gasse wie bei einem Menuett – es klappte zehnmal besser als beim Musikreiten nach der vierzigsten Probe.
van Krachten stand in der Vorhalle. van Krachten sah sich befriedigt um. Alles picobello sauber. Die Schleifen des Reitmeisters, alle gelb und alle Klasse S natürlich, kein Stäubchen darauf, erinnerten an die große Vergangenheit. Die Medaillen spiegelten die Sonnenstrahlen, die durch die Hallentür einfielen. Alle lächelten devot.
In der Halle ritten zwei der besten Einsteller, die man erst inständig bekniet und dann drei Wochen lang darauf vorbereitet hatte, völlig zufällig eben einen Pas de Deux der M-Klasse. Weil das ja sozusagen unser täglich Brot war.
van Krachtens Nußknackergesicht verzog sich zu etwas, das man mit gutem Willen ein gütiges Lächeln nennen konnte. Er sah an den langen Schleifenreihen, die die glorreiche Vergangenheit verkörperten, empor bis zur Decke. Er sah die großen Spinnweben, die Jochen eben leider doch nicht entfernt hatte.
Er erregte sich. Er erregte sich, blau im Gesicht, im ätzendsten, kältesten, gehässigsten Ton, den ich je gehört hatte (mein Chefredakteur war ein blutiger Anfänger dagegen). Seine Angestellten erbleichten. van Krachten legte noch einen Zacken zu. Auch die Kinder wurden bleich.
Bis auf die fünfjährige Monika, die van Krachten direkt gegenüberstand. Arme verschränkt, wippte sie aufsässig mit dem Fuß und sah ihm gerade in die Augen: „Onkel Krachmann! Wenn Du Dich nicht benimmst, gehst du in Dein Zimmer, bis du Dich beruhigt hast!“