die heutige Situation ist paradiesisch im Vergleich zum Zustand im 19. Jahrhundert. Hier war der Hochwald gerodet, der Niederwald war Waldweide, oder wurde zur Gewinnung von Gerbstoffen gebraucht, Laub wurde als Einstreu für Ställe genutzt, der Bergkuppen des Odenwalds entlang des Oberrheins waren kahl, der Schwarzwald abgeholzt und nach Holland verflößt. Allerdings gab es Sümpfe und Rheinarme und Auen mit großem Insekteninventar bevor die Trockenlegung und die Begradigung stattfand.
Stichwort Entwaldung und ein Zeit Artikel über die Entwicklung der Waldbestände. ...
Das mit den paradiesischen Zuständen ist immer so eine Sache. Es lohnt sich, wieder ein bisschen unter die Oberfläche zu schauen.
Niemand möchte heute die Lebensverhältnisse vor 1800 zurück haben. Die Perspektive ist aber rein theoretisch und kein Ansatzpunkt für aktuelle Überlegungen zu einem menschen- und landschaftsverträglichen Landnutzungssystem. Und es bedeutet noch lange nicht, dass die Menschen damals ihr eigenes Leben als elend und jämmerlich empfunden haben. Auch dazu gibt es sehr verschiedene historische Aussagen und viel historische Propaganda.
Am Zeit-Artikel stört mich die undifferenzierte Betrachtung: "Wald" = "gut". Was wir heute in Deutschland an Wäldern sehen, ist ganz überwiegend, auch im Laubwaldanteil, eine sehr einseitige Geschichte. Die forstwirtschaftliche Nachhaltigkeit ist eine auf dauerhaft zuverlässigen Holzertrag und nachhaltigen Aufbau einiger, für das Holzwachstum günstiger Standorteigenschaften gerichtete Betrachtung. Ein breites Spektrum anderer, wichtiger Standortqualitäten, Waldstrukturen, Artenspektren wird zwar häufig pauschal vorgetragen*1. Im praktischen forstlichen Handeln aber fällt es "nachhaltig" hinten runter. Und so sehen die Wälder auch aus. An Artenarmut stehen sie den Maisäckern oft kaum nach, wirken nur auf den Spaziergänger viel heimeliger und eben "schön grün".
Ein dauerhaft auf ganzer Fläche nur Substanz aufbauender, akkumulierender Wald ist aber ein vollkommen unnatürliches Gebilde. In ihm sind alle Prozesse "abgeschaltet", die gelegentlich oder auch regelmäßig gewisse Flächenanteile auf Ausgangszustände und junge Sukzessionsphasen zurückführen. Das vollflächig angewandte Dogma "Fruchtbarkeit" wird zum Scharfrichter für die Vielfalt.
In der Vielfalt und qualitativen Zusammensetzung von Arten, Strukturen und Prozessen waren die historischen Wälder bis 1800 den prähistorischen Wäldern vor menschlicher Siedlungstätigkeit vermutlich viel ähnlicher als es die heutigen Wälder sind. Abgesehen davon, dass weder Förster noch Ökologen noch Pollenkundler wirklich sagen können, wie prähistorische Wälder ausgesehen haben. Wir wissen nur, dass sie sich von heutigen Waldbildern sehr drastisch unterschieden haben müssen.
Qualität und Geschwindigkeit des Auf und Ab der Artvorkommen haben Parallelen zum Klima. Nie vorher waren die Bestandsverluste so schnell und gravierend wie seit Einführung "moderner" Landnutzungssysteme. Es fällt nur nicht so auf, weil: was weg ist, ist weg und stört (erst einmal) nicht mehr. Bis zu einer skandalösen Pressemitteilung und kurz danach. Und ja, völlig richtig, wir hätten die Möglichkeit, bewusst und gezielt daran etwas zu ändern.
*1 Die "lustigste" Beschreibung des segensreichen Tuns deutscher Förster ist die "Kielwassertheorie". Alles schöne und gute im Walde schwämme im Kielwasser der Forstwirtschaft und würde so von ihr mitgenommen. Wie lange hält sich aber über Wasser, was in der Heckwelle ständig nach Luft schnappen muss? Die Kielwassertheorie besagt also erst einmal nichts weiter, als dass die Natur bei den Förstern gar nicht mit an Bord darf. (Inzwischen haben sie das auch überwiegend erkannt, schaffen es aber noch selten, anders zu handeln.)