Die Sache wird noch viel spannender
Ich hab' gestern nacht außer dem Wilford-Buch auch mal noch Vojtech Holubecs „Flowers Of Tian Shan“ konsultiert. Ergebnisse:
.– Auch bei Holubec ist T. dasystemon eine reingelbe Art, T. tarda wird mit Blütenblattgrundfarbe Weiß beschrieben, dazu ein gelber Basalfleck, der über die Hälfte oder einen noch größeren Teil der Blütenblätter reicht. (Letzteres als Abgrenzung zu T. turkestanica und dem ganzen anhängenden Komplex wie biflora, bifloriformis, buhseana, sogdiana und wie sie alle heißen – dort ist der gelbe Basalfleck immer deutlich kleiner.) Von reingelben T. tarda ist auch bei Holubec nicht die Rede.
– Holubec erwähnt, daß diverse Arbeiten der jüngeren Vergangenheit T. tarda mit T. urumiensis synonymisieren. (Die englische Wikipedia beispielsweise hat das schon übernommen.)
– T. urumiensis ist laut Wilford eine Tubergen-Aufsammlung vom Nordostufer des Urmia-Sees im Nordwestiran, wohl aus den 1920er Jahren. 1928 hat Hoog eine blühende Pflanze an Otto Stapf zur Bestimmung gegeben, und Stapf hat sie 1932 als T. urumiensis beschrieben – also nur ein Jahr vor T. tarda. Stapf hat also von der als T. urumiensis beschriebenen Pflanze lebendes Material vor Augen gehabt, und es ist davon auszugehen, daß er auch Exemplare der als T. tarda beschriebenen Art im lebenden Zustand kannte, da diese seit mindestens 1905 in Kultur war, nur eben unter falscher Flagge als T. dasystemon segelte.
– T. urumiensis soll laut Wilford nur dieses einzige Mal gesammelt worden sein (wenn das stimmt, müssen also alle heute unter diesem Namen kultivierten Exemplare von der damaligen Tubergen-Aufsammlung stammen) und sei seither nirgendwo wiedergefunden worden. T. tarda kommt hingegen im nördlichen Tienschan vor, also 3000 Kilometer weiter östlich. Wollte man die Arten gleichsetzen, hieße das, eine winzige Reliktpopulation im Nordwestiran und eine große Population im Tienschan anzunehmen, was gedanklich nur möglich erscheint, wenn die Art einst weiter verbreitet war und dann im Zuge der Austrocknung Vorder- und Mittelasiens in den dazwischenliegenden riesigen Arealen komplett ausgestorben sein sollte. Als Gedankenspiel sicherlich nicht grundsätzlich unmöglich, aber eher unwahrscheinlich.
– Die Ortsangabe der Tubergen-Aufsammlung könnte falsch sein und die Pflanze in Wirklichkeit aus Mittelasien stammen. Das erscheint auf den ersten Blick nicht unmöglich – aber in Mittelasien herrschte noch bis in die späten 1920er hinein Bürgerkrieg, nachdem schon der Erste Weltkrieg dort für eine markante Destabilisierung gesorgt hatte, die schließlich mit der schrittweisen Errichtung der Sowjetmacht endete. Daß für Tubergen in den Jahren seit 1914, speziell dann in den 1920ern noch viel in Mittelasien gesammelt wurde, dürfte daher eher anzuzweifeln sein, so daß mehr dafür spricht, daß die Ortsangabe Urmia-See stimmt.
– Otto Stapf soll, so Wilford, in seiner Erstbeschreibung von T. urumiensis geäußert haben, daß die Pflanze frappierende Ähnlichkeit mit T. australis habe und er keine morphologisch eindeutigen Abgrenzungsmerkmale definieren könne – nur kommt T. australis planmäßig Tausende Kilometer weiter westlich vor.
– T. australis wiederum gehört in den Formenkreis von T. sylvestris, ist also etwas ganz anderes als der Formenkreis um T. dasystemon, der in der Klassifikation von van Raamsdonck zwar zur gleichen Untergattung (Eriostemones), aber innerhalb dieser zu einer anderen Sektion gehört (T. sylvestris in der Sektion Australes, T. dasystemon in der Sektion Biflores). Im Formenkreis von T. sylvestris wiederum kommt T. biebersteiniana auch im Iran vor. Ob Stapf in seiner Erstbeschreibung von T. urumiensis eine Abgrenzung zu T. biebersteiniana gemacht hat, weiß ich nicht.
– 1993 haben sowohl T. tarda als auch T. urumiensis (neben diversen anderen Wildtulpen)
beide einen RHS Award of Garden Merit erhalten. Das spricht dafür, daß in der vorausgegangenen Sichtung wirklich zwei unterscheidbare Pflanzen enthalten waren, denn sonst hätte ja ein Award genügt.
– Wilford schreibt, daß er T. urumiensis als eher spärlich blühende Pflanze kennt. Das würde zu der verbreiteten Beobachtung der Blühfaulheit von T. sylvestris passen. Auch die nickenden Knospen sprächen eher für diesen Formenkreis.
.Falls es irgendwo „Findbücher“ der Tubergen-Sammlungen gäbe, könnte man die Basisdaten zu dem als T. urumiensis beschriebenen Material nachzuvollziehen versuchen.
.Edit: Tippfehler urmiensis beseitigt.