Frühblüher: Hexennuß und ZauberhaselDer Garten ist verschneit. Sein Leben und Duft scheinen ausgelöscht zu sein. Das Schneefiligran von Linien und Ornamenten vergittert und verknüpft sich mit dem Gezweig, verspielt sich am Zaun.
Wuchtiger lagert der Schnee auf den Platanenkronen. Manchesmal kracht mit Wehlaut ein Ast. Zierlich zerstäubt eine weisse Schleierwolke. Langsam senkt sie sich auf einen Strauch, der seit heute in Blüte steht. Im Emailblau des Thermometers glänzt die Silbersäule um die Demarkationslinie des Grades 0 herum. Doch sie, der wunderbare Strauch, blüht goldfrisch wie an einem Frühlingstag. Schien es uns nicht, als ob gestern sein Schneemantel mit gelben Seidenfäden bestickt wäre? Aber heute in der Mittagsstunde, als sich das unentschlossene Licht des Tages änderte, die Wintersonne, ein wenig theatralisch, auf die Szene kam und ihre Strahlen funkelnd wie Messing sich schräg auf die verschneite Welt stürzten, schimmert im Föhn überraschend der Strauch vor uns, denn er ist mit kleinen Blütensonnen übersät. Ein wenig mit Schnee bepudert, richten sich goldhelle Kapriolen von Blumenstrahlen aus wahren Wunderwerken von Rosetten auf. Sie erscheinen aus gebranntem, unglasierten Ton geformt, aus braunroter Terrakotta. Im Kelchinnersten blinkt ein Tropfen Schneewasser.
Hexennuß und Zauberhasel - was für Abenteuerfilmnamen sind diesem Strauch eigen, der in seinem sommerlichen Blättergewand von bürgerlichen Habitus an die Johannis- und Stachelbeersträucher erinnert. In Nordamerika begleitet er meilenweit und in üppiger Dichte die Ufer des Missouri. Die Indianer flochten aus seinem Gezweig kunstgewerbliches Korbzeug, während die "Bleichgesichter", gewohnt an Handel und Wandel und nicht ohne spitzbübische Absicht, in der Goldsucher- und Pionierzeit die Ruten dieses Frühblühers als unfehlbar wirkende Wünschelruten nordwärts in die betreffenden eventuellen Fundgebiete exportierten.
Eine ihrer wenigen Schwestern ist in Ostasien beheimatet. Auch in den Hochtälern der Grenzgebirge zwischen Nepal und Tibet durchzieht der Strauch in Zickzackbändern flammende Rhododendrenfelder. Wünschelruten in religiösem Sinne, werden doch die Zweige dort als Bestandteile für die Gebetsmühlen verwendet.
Obwohl der wunderbare Strauch ein dankbarer Frühblüher ist und als tapferer "Widerstandskämpfer" im Winterkrieg gilt, wurde er bei uns erst in den letzten Jahrzehnten häufiger kultiviert. Merkwürdigerweise haben Hunde und Katzen gegen ihn eine ausgesprochene Aversion. Auch unser schwarz und kupfer geflecktes Kätzchen mit dem morgenländischen Namen Morli mag den Strauch nicht leiden - die Unwissende, wie stolz würde sie sein, wenn sie wüsste, dass er zu den Kätzchenblütlern gehört! Morli, die im sommerlichen Dschungelparadies des Gartens jedes oft unerreichbare Sonneninselchen kennt, wo man es sich köstlich-warm auf den Pelz brennen lassen kann, geht dem Gewächs immer geflissentlich aus dem Wege. Ein Kätzchen verlässt sich auf eigenen Instinkt und verschmäht Wünschenruten.
Oh Hexennuß und Zauberhasel - dass sie auch Früchte trug, bemerkten Morli und wir nur durch einen Zufall. Nach einer Reihe drückend schwüler Sommertage hatte in unserer Gegend ein furchtbares Gewitter getobt. Frisch wehte endlich gesunde und erfrischende Luft durch den Garten. Nur die Hühner standen noch wie verzaubert auf den Leitersprossen, die zum schützenden Dach führten, wohin sie sich vor Blitz und Donner geflüchtet hatten. Von den Bäumen tropfte ein Wasserperlenspiel. Der Tag war klar und rein geworden. In der Ferne hörte man das abziehende Gewitter grollen. Die Mondsichel stand blass und hoch über unserem Wünschelrutenstrauch. Wir sahen zum erstenmal - waren wir doch erst im Frühjahr in das Haus gezogen - ihre kleinen, zierlichen Früche, scheinbar winzige Haselnüsschen, die ein Zwerg aus dem Schneewittchenmärchen modelliert oder Walt Disney gezeichnet haben mochte. Morli interessierte sich lebhaft für eine Jungamsel, die auf den Gebetsmühlenzweigen lyrisch und sangeslustig geworden war. Plötzlich ereignete sich eine Katastrophe, eine kosmische Katastrophe im kleinen. Die Haßelnüsschen waren aufgeplatzt, regelrecht "explodiert", und die winzigen Samenkörnchen wurden von einer rasenden Kraft weit in und über den Garten geschleudert. Morli, das verwöhnte Kind des Hauses, stürmte in gelenkigen Sätzen von der Veranda, um sich vorerst in dem sonst von ihr gemiedenen Musikzimmer zu verbergen. Auch die Jungamsel war erschreckt aufgeflogen. Aufruhr in der Natur! Hexennuß und Zauberhasel!
Im Herbst gab es eine neue Sensation. Die Blätter dieses schönen Strauches westlicher und östlicher Welt verfärbten sich in das tiefste Granatrot, wie es schöner einen Garten nicht schmücken konnte. Es war jenes Rot, wie es unsere Kinderaugen im Kaleidoskop gesehen haben und wie es uns kein Rubin und kein Wein mehr vor Augen gebracht haben. Das Kaleidoskop ist schon lange zerbrochen.
Hexennuß und Zauberhasel, sie blüht wieder. Länger werden die Tage. Bald wird auch der Frühling sanft und verlegen an unsere Gartentür klopfen ...

Ob Baum, ob Strauch - ob Staude oder "Blümchen" - welche Frühblüher wagen es denn schon ...