Hallo, Wollémia,
... Ein tatsächlich "gutes Bild" besteht auch unter einem großen Publikum und anderen Kriterien. Es steht für sich, spricht für sich, vermittelt ein Gefühl, hat eine Aussage, die es nicht nötig hat, "übersetzt" zu werden. ...
das hier nehme ich mal als Ausgangspunkt. (Wobei ich eines ausdrücklich
nicht unterschreibe, nämlich das mit dem "großen" Publikum; das geht mir zu sehr in Richtung Massengeschmack/ Mainstream.)
Davon ausgehend, finde ich dein Foto ausgesprochen gut.
... Es ... vermittelt ein Gefühl...
Diese Ebene ist offenbar stark, davon zeugen die sehr unterschiedlichen Reaktionen.
... hat eine Aussage, die es nicht nötig hat, "übersetzt" zu werden. ...
Auch das ist da. Ebenfalls ausgeprägt. Und ich setze noch eins drauf: Wenn ein Bild eine "Aussage" hat, dann lässt sich die auch nur so und nicht anders ausdrücken, dann man kann sie gar nicht "übersetzen". (Wozu auch, wenn Medium und Botschaft untrennbar eins sind?)
Auf der objektiven Ebene der Bildkritik schließe ich mich Thomas an. Die Komposition ist stimmig: Heller Himmel oben und dunkler Strand unten, helle Sonnenumgebung links und dunkle Wolken rechts sind vorzüglich balanciert. Die schmalen, flachen Wellenkämme - einzige Bildpartie, die voll in der Schärfe liegt und deutlich ausgeleuchtet ist - sind trotz kleinen Anteils an der Bildfläche klar das Hauptmotiv. Der tiefe Horizont gibt dem Bild die nötige Weite. Die ganz leichte Diagonale der Wasserlinie bringt einen Tick Spannung hinein, aber nicht zu viel (verliefe die Wasserlinie waagerecht, wär's todlangweilig - verliefe sie schräger, wäre die Wirkung wahrscheinlich gekünstelt). Die Farbigkeit ist spannend.
Auf der subjektiven Ebene erscheinen mir die bisherigen Kommentare problemlos vereinbar. Das Bild zeigt Natur pur in strenger Majestät, die Menschen nicht braucht und keine Rücksicht auf sie nimmt: "kalt und feindlich". Es zeigt diese Natur ohne große Dramatik, in ihrer Normalität: "keine Aktion", "Alltag". Es zeigt sie ohne Aktualität, ohne Zeittakt, quasi in ihrem Ewigkeitsaspekt: "puristisch klar, wie im Traum", "zwischen Traum und Bedrohung", "fremd", "wie eine Bühne".
Mich fasziniert gerade diese Fremdheit. Und der "Bühnen"-Charakter ohne Aktion. Als habe sich eben der Vorhang geöffnet - doch ich weiß nicht, was für ein Schauspiel stattfinden wird und wann, ich ahne nicht mal, ob überhaupt etwas geschehen wird; alles ist möglich oder nichts. Da ist Rätsel und zugleich Offenheit für eigene Imagination - das Bild versetzt mich in unbestimmte Erwartung, es lädt mich ein, die Fantasie schweifen zu lassen. Und es fordert mich heraus. Nämlich dazu, eine Welt jenseits jeglichen menschlichen Zeit- und Größenmaßes zur Kenntnis zu nehmen.
Ein Bild, das so wirkt, ist für mich ohne jeden Zweifel ein "gutes" Bild.
Möglich, dass man es noch verbessern kann. Kann sein, dass im Original das Licht einen Tick zu gelb ist. Die Version in #397 finde ich aber falsch, da kippt die Bildstimmung. Die Version in #396 ist auch nicht "das Gelbe“, denn sie bringt den nebligen Hof um die Sonne nicht gut rüber - vielleicht irgendwo zwischen #377 und #396 (und zwar näher an #377)? Möglich auch, dass leichter Beschnitt gut täte, etwas Strand unten und etwas Himmel oben weg (Extremformate haben oft stärkere Wirkung als die klassische 3:2-Proportion). Vielleicht könnte man auch die Wellenkämme, und nur die, zusätzlich schärfen. All das müsste man ausprobieren.
Sind aber letztlich nur Petitessen. Keine Substanzverbesserungen – die braucht das Foto nicht, es
hat Substanz.
Schöne Grüße
Querkopf