Goldener Schnitt... was bedeutet das denn, worin liegt der Vorteil?
Da muß man ein bißchen weiter ausholen.
Vielen Menschen ist Symmetrie sehr wichtig. Rechte Winkel, mit dem Lineal gezogene Wege, "saubere" Kanten, spiegelbildliche Anlagen. So ein gerades Erscheinungsbild vermittelt ihnen ein Gefühl von Sicherheit - ein psychologischer Effekt, und leider auch ein trügerischer.
Ein symmetrisches Erscheinungsbild im Garten symbolisiert perfekt kontrollierte, unterworfene Natur, und es ist kein Wunder, daß man in buchsbaumgesäumten Parterren genau diese Formationen antrifft. Diese zeugen nicht unbedingt von Fantasielosigkeit, aber sie haben auch rein gar nichts mit natürlichen Wuchs- und Landschaftsformen zu tun.
Eine Hecke, die zwischen sauber ausgerichteten Kirschlorbeersträuchern jeweils rechts, in der Mitte und links eine blaue Thuja in Säulenform enthält, gerät unweigerlich zum "Hausaltar". Fehlt nur noch, daß zwischen den Thujen je ein weißer, spindelförmiger Pflanzcontainer mit je einem Buchsbaum drin steht.
Ich übertreib jetzt ein bißchen, um zu verdeutlichen, wie gemeingefährlich so eine Symmetrieverliebtheit für Fantasie und Psyche sein kann - sie steckt die beiden nämlich zusammen in ein Gefängnis von Engstirnig- und Kleinlichkeit. (Und nur ganz nebenbei und OT - es ist auch kein Wunder, daß Kirchen wie Kasernen der
Linientreue frönen.)
So, jetzt zum Goldenen Schnitt.
Er besagt, daß eine Linie AC in Punkt B so geteilt (geschnitten) wird, daß sich der kleinere Linienabschnitt AB zum größeren Linienabschnitt BC genauso verhält, wie der größere Linienabschnitt BC zur Linie AC.
Das entspricht grob gerechnet etwa 40:60 wie 60:100.
Übersetzt: Wenn deine Hecke 10 m lang wäre, würdest du bei der Beachtung des Goldenen Schnitts eine Thuja an den Anfang setzen, die nächste bei 4 m oder bei 6 m, die letzte ans Ende. Könner würden auch die Teilstrecken noch einmal im Goldenen Schnitt teilen, um zu vermeiden, daß die beiden Thujen genau auf den Eckpunkten stehen.
Eine Teilung im Goldenen Schnitt wirkt harmonisch, ohne spiegelsymmetrisch zu sein. Sie zwingt das Auge nicht in ein striktes Linienbild, sondern wirkt natürlich, fast zufällig.
Bei meinem perfektionistischen Augenbild habe ich ja schon Probleme damit, die Hecke nicht gleichmäßig zu pflanzen.
Wenn du wirklich ein perfektionistisches Augenbild hättest, dann müßte dir eine Hecke à la Hausaltar körperlich weh tun.
Ich habe mal in einer Schule für lernbehinderte Kinder gejobbt und dabei voller Erstaunen bemerkt, daß Malbücher gerne und akribisch mit Filzstift, vorgegebene Linien folgend, ausgemalt wurden, die Kinder sich aber nicht wagten, ihre eigenen Ideen und Träume einem großen, freien Blatt Papier mit Fingerfarben anzuvertrauen.
Ein Garten ist so ein großes, freies Blatt und über alle Freunde an der Natur hinaus auch eine Chance, frei zu denken.
Es bleibt jedem überlassen, selbst für sich zu entscheiden, ob man sich in seinem Garten ein Gefängnis enger, symmetrischer Linien und Formen schafft, oder sich auf ein freies Spiel mit Farben, Formen und Pflanzen einläßt.
Ich glaube, der Sponti-Spruch dafür heißt "Mut zur Lücke".